Das Leben vor die Füße geschmissen…

Manchmal ist der Tod ein Auftraggeber, manchmal ein Versöhner. Juliane Vieregge begleitete ihren Vater in den letzten Wochen, bis er starb. Die Bilder des Sterbens ließen sie lange nicht los und je mehr sie sich damit beschäftigte, desto mehr wurde ihr bewusst: Uns fehlt eine Kultur des Sterbens ebenso wie eine Kultur des Trauerns.

Wie soll man sich dem Tod stellen?

Juliane Vieregge stellt sich dem Thema, indem sie 18 Interviews führte mit Hinterbliebenen – manche sind prominent, manche nicht. Die Gesprächspartner haben selbst jemanden verloren – Eltern, Kinder, Geschwister. Oder sie sind beruflich jeden Tag mit dem Tod konfrontiert.

Wie soll man sich dem Tod stellen? Wie kann man sich der Sprachlosigkeit stellen zwischen sich und den (sterbenden) Eltern?

Horst Buchholz spricht mit seinem Sohn

Christopher Buchholz beispielsweise schildert, wie er vier Jahre vor dem Tod seines Vaters Horst Buchholz begonnen hat, mit ihm vor der Kamera zu sprechen und ihm Fragen zu stellen. Obwohl sein Vater, der berühmte Schauspieler gewohnt war, in der Öffentlichkeit zu stehen, gehörte er dennoch genauso zu der Kriegskinder-Generation, die manchmal einfach nicht wusste, etwas zu sagen üer sich selbst. Die nicht darüber nachdachten, was ihnen an Leid und Verlusten geschehen war, sondern weitermachten, aufbauten. Und auf der anderen Seite der Sohn, der den Vater gar nicht richtig gekannt hat, sein schärfster Kritiker ist und schließlich am Ende erkennt, dass er dem Vater nun nichts mehr übel nimmt.

Das Leben vor die Füße geschmissen

„Meine Mutter hat mir mit ihrem Tod ein Lebensrätsel aufgegeben“, bekennt Jan Schmitt, der über den Suizid seiner Mutter erzählt. Er ist erst wütend, weil ihm seine Mutter ihr Leben „vor die Füße geschmissen“ und ihm die Bürde aufgehalst hat, sich um die Geschwister zu kümmern. Welches Leid der Mutter dahinter steckt, erfährt der Sohn erst mit ihrem Tod: jahrelang wurde sie von einem Jesuitenpfarrer sexuell missbraucht, der regelmäßig die streng katholische Familie besucht. Der Sohn ist der einzige in der Familie, der Fragen stellt und wissen will, was da wirklich passiert ist. Denn die Geschichte seiner Mutter ist ja auch seine Geschichte. Und so verarbeitet Schmitt als unabhängiger Dokumentarfilmer das Thema des sexuellen Missbrauchs 2009 in dem Film „Wenn einer von uns stirbt, gehe ich nach Paris“.

Manchmal ist der Tod ein Auftraggeber, manchmal ein Versöhner. Entstanden sind 18 vielschichtige, berührende und sehr persönliche Geschichten. Ergänzt werden sie um Essays zum Umgang mit Sterben, Tod und Trauer in unserer Gesellschaft.

Vieregges Fazit: „Wer sich mit dem Tod beschäftigt, der stellt sich auch die entscheidenden Fragen des Lebens.“

14.06.2019

C. Juliane Vieregge:
Lass uns über den Tod reden
März 2019
Seitenzahl: 304
Abbildungen s/w: 18
14,99 Euro

 

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