Niemand spricht über Suizid – aber das könnte Leben retten

Über das Thema spricht man nicht, die Themen Tod und Trauer werden verdrängt. Stefan Lange tritt seit Jahren an, um mit Kurz-Filmen (Videos) gegen dieses gesellschaftliche Tabu aufmerksam zu machen: Suizid. Pro Jahr nehmen sich in Deutschland ca. 10.800 Menschen das Leben. Bei Jugendlichen unter 25 Jahren ist Suizid nach Verkehrsunfällen die zweithäufigste Todesursache. Was wäre, wenn wir anfangen würden, darüber zu sprechen? Stefan Lange gab dem Forum Dunkelbunt ein Interview:

Stefan Lange

Forum Dunkelbunt: Erstmal unseren herzlichen Glückwunsch! Sie engagieren sich schon seit Jahren für einen offenen Umgang mit dem Tabu Suizid, aber 2020 ist offenbar das Jahr, in dem Sie den öffentlichen Durchbruch schaffen – Ihr Anliegen kam in die „Psychologie Heute“! Hoffen Sie darauf, dass sich jetzt noch etwas mehr ändern wird? Und wenn ja, was wünschen Sie sich an Veränderung?

Stefan Lange: Danke für die Glückwünsche. Das Wort Durchbruch würde ich nicht verwenden, weil wir nicht in der Musikbranche sind, wo es tatsächlich passieren kann, dass jemand über Nacht zu einem Star werden und einen Durchbruch schaffen kann.

Betroffene sollten reden, nicht nur Fachexperten

Das Thema Suizid ist ein gesamtgesellschaftliches Thema und es dauert lange, bis sich solche Themen etablieren. Ich hoffe sehr, dass sich etwas ändert, vor allem, dass mehr Betroffene über das Thema sprechen. In Deutschland reden zu viele Fachexperten über Suizid, die das Thema lediglich studiert, aber nicht selbst erfahren haben. Wir müssen endlich weg von der ausschließlichen Fachexpertise, denn Betroffene verfügen über ausreichend Empathie und Erfahrung, angemessen darüber zu sprechen und nur Betroffene können authentisch davon erzählen.

Auch die Medien müssten das Thema häufiger aufgreifen, denn diese sind dazu da, Menschen und Meinungen zusammenzuführen und auszutauschen, auch bei schwierigen Themen wie etwa Suizid. Aber an das Thema trauen sie sich nicht oder kaum heran.

Forum Dunkelbunt: Es gibt in den meisten Redaktionen Einigkeit darüber, dass nicht über Suizide berichtet wird, weil es einen Nachahmer-Effekt geben könnte. Wie sehen Sie das?

Stefan Lange: Sehr zwiespältig! Es ist wissenschaftlich unzweifelhaft bewiesen, dass eine bestimmte Form der Berichterstattung über Suizid zu Nachahmungstaten führen kann; wir sprechen dann vom Imitations- oder Werther-Effekt. Es gibt Empfehlungen des Presserates, wie Medien mit dem Thema Suizid umgehen sollten: Zurückhaltend, keine Nennung näherer Umstände!

In diesen Richtlinien gibt es aber auch eine Ausnahme, die sogenannte Promi-Klausel. Ist nämlich das (suizidale) Verhalten dieser Person von öffentlichem Interesse, so kann von der restriktiven Richtlinie abgewichen werden.

Und wenn sich ein Promi das Leben nimmt oder suizidal ist, dann kriechen sie aus ihren Löchern, dann wir das Ereignis medial ausgeschlachtet, da gibt es manchmal kein Halten mehr, keinen Respekt oder Anstand. Aber nicht um das Thema Suizid zu behandeln, sondern mit reißerischen Berichten die eigenen Auflagen oder Klickzahlen (Onlinemedien) zu erhöhen.

Es gibt nicht nur Nachahmer-Effekt, sondern auch Möglichkeit der Hilfe

Diese Empfehlungen des Presserates fußen auf den Erkenntnissen der Fachexperten und die Zahlen könnten ihnen Recht geben. Aber, seit neuester Zeit, beobachtet man auch einen anderen Effekt: Wenn angemessen über das Thema berichtet wird, wenn Menschen zu Wort kommen, die eine suizidale Krise überwunden haben, welche Hilfen sie hatten bzw. welche Strategien ihnen bei der Bewältigung der Krise geholfen haben, dann kann das die Suizidzahlen nachweislich senken. Man spricht hier vom sogenannten Papageno-Effekt in Anlehnung an die Figur des Papageno aus Mozarts Zauberflöte, der seine Suizidabsichten mit Hilfe von anderen überwinden konnte.

Die Medien sollten daher, wie oben angedeutet, mehr über solche Menschen berichten. Aber wenn man sich den Redaktionsalltag anschaut, wird einem schnell klar, warum das so selten passiert: Ein reißerischer Bericht über ein Promi, der viele Klickzahlen einbringt, ist schnell geschrieben. Für einen Bericht über einen Menschen, der eine Krise überwunden hat, bedarf es einen erheblich größeren recherchetechnischen Aufwand. Und das kostet eben Zeit und Geld.

Forum Dunkelbunt: Sie engagieren sich inzwischen seit vielen Jahren für Menschen, die sich mit Suizidgedanken plagen – weil Sie wissen, wie sich diese Gedanken anfühlen. Was hat bei Ihnen persönlich dazu geführt, sich doch für das Leben zu entscheiden?

Stefan Lange: Die Entscheidung kam ja erst nach der emotionalen Katastrophe, also nach einem gescheiterten Versuch. Und die Entscheidung kam nicht spontan oder plötzlich, sondern wuchs langsam. Eine gute Freundin hat sich meiner angenommen und mir vermittelt, dass es mit professioneller Hilfe besser werden könnte und erst als diese Erkenntnis in mir gereift ist und ich daran geglaubt hatte, gab es einen Ausweg. Es war ein langer Weg bis ich wirklich überzeugt sagen konnte, dass ich froh war, überlebt zu haben.

Familie und Freunde können helfen

Forum Dunkelbunt: Sie sagen, sie haben zwei Geburtstage erlebt. Der zweite ist jedoch nicht, wie man erwarten könnte, der Tag, an dem Sie sich fürs Leben entschieden haben, sondern der Todestag Ihres Vaters. Ist es so, dass Sie nicht des Lebens, sondern den Folgen einer schwierigen Kindheit müde waren?

Stefan Lange: Suizidalität ist ein sehr langer Weg, denn man wird nicht plötzlich suizidal und entscheidet sich aus dem Nichts heraus dem Leben ein Ende zu setzen. Viele Faktoren spielen da eine Rolle. Eine schwierige Kindheit kann schon einen erheblichen Einfluss haben. Diejenigen Menschen, die als Kind mit Liebe, Fürsorge, Achtung und Respekt aufgetankt wurden, entwickeln viel stabilere, sich selbst achtende Persönlichkeiten als Menschen, die in ihrer Kindheit Gewalterfahrungen physischer und psychischer Natur gemacht haben.

Forum Dunkelbunt: Welche Hilfe haben Sie von außen erfahren, als es Ihnen sehr schlecht ging?

Stefan Lange: Die wichtigste Hilfe war die einer guten Freundin, also keine Psychologin, sondern ein ganz normaler Mensch, der mir mit Fürsorge, Empathie und echtem Interesse aus der schwierigen Situation geholfen hat. Anja hat sich meiner vorbehaltlos, ohne Angst oder Scheu angenommen und mich davon überzeugt, dass es mit professioneller Hilfe besser werden kann. Ohne diese wichtige Erkenntnis und Einsicht hätte ich mich niemals für diesen Schritt entschieden. Anja hat einfach etwas Mut bewiesen und Zeit investiert.

Und jeder Mensch kann ganz einfach zu einem Lebensretter für einen anderen Menschen werden. Dazu braucht es gar nicht so viel und weil das Handeln von Anja so wichtig war und ist, schließt meine YouTube-Serie „Komm, lieber Tod“ mit einem Interview zwischen Anja und mir ab. Wir wollen zeigen und Mut machen, auf Menschen mit Suizidgedanken zuzugehen, statt sie zu ignorieren oder zu verurteilen.

Forum Dunkelbunt: In einem Video sagen Sie, dass es gut ist, Menschen darauf anzusprechen, von denen man meint, dass sie sich mit Suizidgedanken tragen – aber wie kann man das erkennen, wenn jemand nicht darüber spricht?

Stefan Lange: Es mag nicht einfach sein, das zu erkennen und wenn jemand den Entschluss gefasst hat und unmittelbar davor steht, seinem Leben ein Ende zu setzen, dann hat man als Außenstehender auch kaum eine reelle Chance das zu verhindern. Menschen, die an diesem Punkt sind, tarnen oft ihre wahren Absichten.

Suizidalität ist ein langer Weg

Aber wie ich oben gesagt habe: Suizidalität ist ein langer Weg und es wäre gut, wenn man früher ansetzen könnte. Wir sind alle emotionale Wesen und nehmen schon kleinste Stimmungsversveränderungen bei anderen Menschen wahr. Aber wir trauen uns oft nicht, die Dinge anzusprechen. Manchmal fehlen uns auch die richtigen Worte, weil wir einfach nicht gelernt haben, über Gefühle zu sprechen. Ist doch erstaunlich: Wenn wir die Schule verlassen, wissen wir über so viele Dinge Bescheid und haben eine gewisse Allgemeinbildung. Nur über Emotionalität und Gefühle haben wir nicht gelernt zu sprechen.

Wir können nun auch die gesellschaftlichen Veränderungen thematisieren, dass der Druck auf uns ständig wächst, wir kaum noch für andere Menschen Zeit haben und keiner als schwach und bedürftig gelten will. Da das Thema medial so ausgegrenzt wird, ist es eben nicht präsent, wirkt bedrohlich und macht auch Angst. Das mediale Schweigen zu dem Thema Suizid trägt maßgeblich zu einer Tabuisierung bei und führt dazu, dass Suizid oder Suizidalität so überdramatisiert wird.

Aber, um es nochmals zu betonen: Es braucht nicht viel, um einen Menschen von der Idee, sich das Leben zu nehmen, abzubringen. Man muss es versuchen, auch wenn man nicht jeden retten kann, aber nichts zu tun, wäre die falsche Entscheidung.

Forum Dunkelbunt: Man braucht auch Mut und vielleicht auch die richtigen Worte, um sich Betroffenen zu nähern. Welche Worte empfehlen Sie?

Stefan Lange: Ich denke jeder Mensch und jede Situation ist anders. Mit ein wenig Mut wird man die richtigen Worte finden. Ich kann jetzt keine Liste an richtigen Worten aufzählen. Was man auf jeden Fall tun sollte, ist den Menschen und die Situation ernst nehmen, ihn nicht wegen dieser Gedanken zu verurteilen oder abzuwerten und einfach da sein. Manchmal reicht schon die Nähe aus (physische Präsenz) und dann braucht es keine Worte.

Forum Dunkelbunt: Mal so direkt gefragt: Können Texte oder Videos Leben retten?

Stefan Lange: Nicht direkt, sondern vielleicht indirekt. Wenn ein Mensch sich entschlossen hat und kurz vor der Tat steht, wird derjenige oder diejenige weder Videos anschauen noch sich sonstige Ratschläge anhören, die ihn umstimmen könnten.

Aber unsere Videos sind dafür gemacht, ein Bewusstsein für das Thema zu schaffen. Wir wollen eben auch das Umfeld erreichen und Mut machen darüber zu reden. Denn ich selbst habe erfahren, dass das Reden darüber Leben retten kann, und besser ist es, man tut es bevor es zu spät ist.

Forum Dunkelbunt: Vielen Dank für das Gespräch!

(Interview: Beate Schwedler)

Stefan Lange
„Suicide – Drei Monate und ein Tag“

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Weitere Infos:

www.stefan-lange.ch

https://stigma-ev.de/

WDR-Beitrag
Das Tabu fällt, die Tragik bleibt:

 

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