Der Leichen­schmaus als Tritt­stein für den Trau­erweg

Manchmal geht es hoch her, es wird gelacht und getrunken. Manchmal ist die Stim­mung sehr gedrückt. Doch eines ist beim Leichen­schmaus nach der Beer­di­gung immer gleich. Die Trau­ernden merken: sie sind nicht allein und in der Gemein­schaft wendet man sich dem Leben zu. Hermann Bayer schreibt auf „trauer now“ mit viel Exper­tise und aus seinem eigenen Erleben heraus darüber, welche Rolle der Leichen­schmaus als soziales Ritual für An- und Zuge­hö­rige nach der Beiset­zung auch heute noch haben kann:

Selbst, wenn „Leichen­schmaus“ nur ein Wort unter vielen anderen Beschrei­bungen ist, schlage ich vor, wir verstän­digen uns darauf, weil mir dieser Begriff von Kind­heit an vertraut war beim Tod meiner Groß­el­tern oder Nach­barn:

Ein Leichen­schmaus als ein Zusam­men­sein der Trau­er­gäste im Anschluss an eine Beerdigung, das von der Familie des Verstor­benen ausge­richtet wird.

Ursprung und Bedeu­tung

Diese welt­weit vorkom­mende Sitte war bereits in vorgeschichtlicher Zeit bekannt und ist die im inter­kul­tu­rellen Vergleich am weitesten verbrei­tete Tradi­tion und Brauchtum bei Begräb­nissen. Der Leichen­schmaus signa­li­siert den Hinter­blie­benen, dass das Leben weiter­geht und der Tod zum Leben gehört.

Das gemein­same Essen soll im Gedenken an den Toten statt­finden und einen zwang­losen Rahmen bieten, in dem Geschichten rund um ihn oder sie erzählt werden können – in Ergän­zung zur Bestat­tung. Das Erzählen von Geschichten und Anek­doten dient zur Verle­ben­di­gung von Erin­ne­rungen an den Verstor­benen. Wie von selbst erstehen trau­rige und fröh­liche Momente glei­cher­maßen, so wie das Leben in Wirk­lich­keit ist.

Die An- und Zuge­hö­rigen werden auf dem ersten Schritt weg vom Grab nicht allein gelassen, sondern bleiben weiter bzw. wieder neu Teil ihrer sozialen Gemein­schaft. Sie betreten auf dem ersten Schritt weg vom Grab ein erstes Mal den Raum neuer Zuge­hö­rig­keit in der Familie und dem Freun­des­kreis ohne den zuvor verab­schie­deten Verstor­benen. Das Essen kann zugleich auch eine Einla­dung sein, um gestärkt den Weg nach Hause – und eben oft auch in ein anderes Dorf oder andere Stadt – antreten zu können.

Diese uralte Tradi­tion trägt in sich eine tiefe Bedeu­tung, die durchaus als „magisch“ bezeichnet werden kann. Ritual, Tradi­tion und Brauchtum berühren tiefere Ebene des Mensch­seins und leben von der Wieder­hol­bar­keit der stets glei­chen Abläufe und dem Mitein­ander in Gemein­schaft.

Mit dem Tod scheint alles still­zu­stehen und nichts ist mehr, wie es war. Dann schöpfen wir Menschen wie aus einem uralten Wissen, um den Übergang vom gemein­samen Leben in den Tod und aus dem Tod ins neue Leben hinein zu voll­ziehen.

Dieses „neue Leben“ beginnt in Gemein­schaft. Die Hinter­blie­benen erfahren so, dass sie darin aufge­hoben sein werden. Deshalb gehört der Leichen­schmaus mit in den ritu­ellen Vollzug der Beer­di­gung

Abschied – Übergang – Neuan­fang

Zunächst ein kurzer theo­re­ti­scher Exkurs, der mich in der Praxis leitet. Die „rites de passage“ nach dem fran­zö­si­schen Anthro­po­logen Arnold van Gennep (1909) beschreiben die Drei­heit eines Rituals: Abschied – Übergang – Neuan­fang.

Zum Beispiel der ritu­elle Abschied beim Tod eines Menschen, der Beer­di­gung. Er beschreibt darin im Abschied den Übergang, sowohl des verstor­benen Menschen aus der sozialen Gemein­schaft als auch den des Hinter­blie­benen in einen neuen Lebens­schritt, in dem „Eine*r fehlt“ (Sepul­kral Museum Kassel: Leichen­schmaus Gestern und Heute)

Solche Verän­de­rungen bringen, wie auch die Emoti­ons­for­scherin und Psycho­the­ra­peutin Verena Kast sagt, Unsi­cher­heiten und Unge­wiss­heiten mit sich. Daher werden sie von Ritualen begleitet, die Sicher­heit in diesem unsi­cheren Lebens­ab­schnitt bringen können.

In der ritu­ellen Loslö­sung von der alten Rolle werden Personen auf die neuen Struk­turen vorbe­reitet und sie erfahren dabei, wie die soziale Ordnung sich erneuert bzw. erhalten bleibt. Verena Kast beschreibt anschau­lich, dass solche Rituale symbo­li­sche, szenisch-gesti­sche Hand­lungen sind, klar struk­tu­riert und daher wieder­holbar. Sie werden von Menschen aus freien Stücken und bewusst voll­zogen und treten als sozial gere­gelte Akte an die Stelle von Sprach­lo­sig­keit, Hand­lungs­lo­sig­keit und blinden Ausbrü­chen.

Als Gestalter von Abschieds­ri­tualen erlebe ich, wie das Ritual die nicht vorstell­bare Situa­tion einer Beer­di­gung selbst bei guter Vorbe­rei­tung in der Tiefe halten kann. Oft frage ich mich, wie Menschen aushalten, was nicht aushaltbar scheint. Der Drei­schritt im ritu­ellen Vollzug einer Beer­di­gung führt mich darin immer wieder in neues Vertrauen.

Jede Bestat­tung zeigt sich als Drei­schritt in „Abschied – Übergang – Anglie­de­rung“, umrahmt von Symbolen, wie Musik und Blumen und dem Licht der Kerzen, den Farben von Luft­bal­lons oder ähnli­chen Details. Diese Schritte spie­geln den Verlauf einer Trau­er­feier (Abschied und Würdi­gung), des Übergangs (Weg zum Grab und Bestat­tung) und die Anglie­de­rung im Neuan­fang (Leichen­schmaus) wider. Dies geschieht im Vertrauen auf den Menschen, der das Ritual (beg)leitet, sei es ein Vertreter*in aus dem reli­giösen Kontext, als Trau­er­redner*in oder ein vertrauter Mensch aus den Kreisen der Familie oder Freunde.

Das erste Mal in meinem Leben machte ich diese Erfah­rung, als vor 39 Jahren mein Vater gestorben ist

Der Ablauf der Beer­di­gung war klar: Requiem in der Kirche, Gang auf den Friedhof und Ausseg­nung, Weg zum Grab und Beiset­zung. Klar war auch, dass die Trau­er­gäste einge­laden waren zum „Leichen­schmaus“, so die Bezeich­nung bei uns im Schwä­bi­schen.

Das Essen war, wie regional üblich, vorbe­reitet mit Brat­würsten und Kartof­fel­salat. Da jedoch viel mehr Gäste kamen, als voraus­sehbar war, gingen die Würste aus und es gab zusätz­lich Schnitzel. Es schien, dass dieje­nigen, die keine Brat­wurst mehr bekamen, sehr enttäuscht, gera­dezu belei­digt waren. Es war für sie „keine rich­tige Leich‘“ in dem was wir verin­ner­licht haben an „magi­scher Kraft“, um gut wieder nach Hause und in das eigenes Leben zurück­kehren zu können.

Was also im Abschied und Übergang in der Feier voll­zogen wird, zeigt sich im „Toten­mahl“ seit Menschen­ge­denken als erster Schritt zum Neuan­fang. Und dazu braucht es auch das regional tradi­tio­nelle Essen und sicher auch für manche einen Schluck Alkohol um zu wagen, was als „neuer Weg“ noch nicht vorstellbar ist.

Was Kinder und vor allem Jugend­liche oft ablehnen, ist dieser gefühlte Wider­spruch. „Zuerst weinen alle und dann lachen sie und sind fröh­lich“. Das passt wohl nicht zusammen. Und findet gerade in der mora­li­schen Vorstel­lung junger Menschen seine Grenzen. Entweder – oder. Beides zusammen, geht das?

Beides voll­zieht sich in einem, die Freude und die Trauer. Die Dank­bar­keit und der Verlust. Ein Tritt­stein kann dann zum Halt werden, wenn der Abschied in der Gemein­schaft als Erin­ne­rung und Ermu­ti­gung zum ersten Schritt in einem neuen Leben ange­regt und einen Menschen immer wieder in der Erin­ne­rung daran trägt.

Bei der Beer­di­gung unserer Mutter wenige Tage im ersten Lock­down im März 2020 fiel der Leichen­schmaus aus. Selbst für uns als Familie war die Verun­si­che­rung damals groß, wenigsten noch eine Tasse Kaffee wollten wir mitein­ander trinken. Fast unent­deckt im Haus, damit es keiner sieht!

Diese Situa­tion ist während der Pandemie für viele Hinter­blie­bene zur Realität geworden und ihnen fehlt, wie mir, bis heute die Gemein­schaft mit den Menschen, die meine Mutter geliebt und mit ihr gelebt haben. Nach­holen geht nicht, längst sind wir weitere Schritt gegangen und das wissen viele andere in derselben Erfah­rung.

Ein Tritt­stein, der fehlt!

In der Zeit der Pandemie wurden wir gera­dezu aufge­for­dert, Tradi­tionen und Brauchtum von ihrer ursprüng­li­chen Bedeu­tung her wieder zu verstehen und im Wandel dieser Zeit eine neue Sinn­welt zu erschließen

Wir haben viel Krea­tives gewagt und umge­setzt „aus der Not“, andere Ausdrucks­formen zu entwi­ckeln. Unsere Ideen während der Pandemie suchten nach einer Weise, die Verbun­den­heit spüren ließ – zu sich selbst und allen denen, die mittrauern.

Man suchte zum Beispiel nach etwas, was alle mit dem Verstor­benen verbunden hat, was er gerne gegessen hat, welche Musik die Person liebte oder welche Wege er gegangen ist. Möglichst nahe wollte man sein an dem, was er geliebt hat, was ihm entspro­chen hat, worin Nähe wie selbst­ver­ständ­lich spürbar ist und man sich traut zu leben. Denen, die nicht bei der Beer­di­gung dabei sein durften, wurde zum Beispiel ein Rezept verschickt, das zu kochen in beson­derer Weise erin­nern kann. Oder Musik, ein Lieb­lings­stück, welches beim Hören die Verbin­dung zum Verstor­benen herstellen konnte.

Der Rahmen eines nicht statt­fin­denden Leichen­schmauses öffnete sich in Möglich­keiten, die für eine längere Zeit hinweg verge­gen­wär­tigen können, was bleibt und was alle mitein­ander verbinden kann. Tritt­steine wie von selbst auf dem unbe­kannten Weg der Trauer, hinein­ge­stellt mitten in den Alltag und dem, wonach das Herz sich sehnt.

Ich erlebe, dass trau­ernde Menschen in Verbin­dung zum Freun­des­kreis spüren, dass das voll­zo­gene Beer­di­gungs­ri­tual „nicht ausreicht“. Sie suchen nach Erneue­rung auf dem bereits gegan­genen Weg. Eine Frau hat zum Beispiel 40 Tage nach dem Tod ihres Mannes noch einmal einge­laden, um einander in der Runde erzählen zu können, wie sie an den Verstor­benen denken und was sie bewegt. Es gab Brot und Wein und wurde musi­ka­lisch begleitet. Ein beson­derer Moment des Inne­hal­tens, der durchaus auch weiterhin eine eigene Gestalt finden darf, zum Beispiel am Geburtstag, an einem der Toten­ge­denk­tage im November oder zum Jahrtag. Dabei findet der im Drei­schritt voll­zo­gene „Neuan­fang“ Tiefe und Wand­lung.

Wie von selbst gehen meine Gedanken auf den Friedhof

Beson­ders in den zurück­lie­genden drei Jahren fanden wir in unserer Familie einen neuen Zugang zu dem Ort unserer Eltern und Groß­el­tern. Wo anders sollten wir uns treffen als im Freien und der Nähe zuein­ander.

„In der Not“ haben wir uns wohl­ge­fühlt, die Kinder am Grab gespielt und manches in der Natur drum­herum entdeckt. Viel­leicht werden wir das beibe­halten und unsere nächste Einla­dung kann die sein, dass wir im Sommer einen Eiswagen bitten, ans Grab zu kommen, oder jemand, der auf seinem Fahrrad Kaffee und oder Sekt anbietet. Die Urenkel, Kinder und erwach­senen Kinder werden sich darauf freuen.

Ein persön­li­cher Gedanke zum Schluss

Das „letzte Fest“, der Leichen­schmaus, kann ja heute schon vorbe­reitet werden – und die Planung ist jeder­zeit verän­derbar, solange wir leben. Sich vorzu­stellen, wie das Fest sein wird, bei dem ich selbst nicht mehr leib­haftig dabei sein werde, schenkt mir heute schon Freude. Auch deshalb, weil ich, solange ich lebe, üben und die Menschen einladen kann, die mir wichtig sind. So dass sie dann – so sie mich über­leben – feiern werden.

Dass wir darin Dank­bar­keit finden, solange wir leben, wünsche ich mir. Dank­bar­keit, Verbun­den­heit und Zuge­hö­rig­keit.

Schön ist das Leben jetzt. Und in diesem Sinne auch der Leichen­schmaus (oder wie auch immer benannt) im Ritual der Bestat­tung.

 

Zum Autor: Hermann J.  Bayer, Sozi­al­päd­agoge, Ritual­ge­stal­tung und Lebens­be­glei­tung. Mitar­beit im Redak­ti­ons­team von trauer/​now. www.lebens­cafe.de

Foto: pixabay.de

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