„Der Apfel hat einen Fleck!“ Endlichkeit im Einkaufswagen

Der Totenhemd-Blog begleitet uns schon lange. Aufgerufen durch die Blogaktion „Wo spaziert der Tod durch euer Leben?“ hat dort Autorin Annegret Zander einen Beitrag darüber verfasst, was unsere Angst vor fleckigem Obst zu tun haben könnte mit unserer Angst vor dem Tod:

IMG_5356Meine These: Die Ablehnung von Flecken auf Obst hängt mit unserer Ablehnung der Endlichkeit zusammen. Im Rahmen unserer Blogaktion „Wo spaziert der Tod durch euer Bild?“ möchte ich diesen Aufreger mit euch teilen.

Alle reden übers Händewaschen. Also die Medien. Keine Ahnung, ob meine Mitmenschen dann auch tun, was ihnen empfohlen wird, um sich und andere vor Corona und Viren aller Art zu schützen. Ich schon. Mit Seife und lang. Schon immer.  Aber tut SIE es auch? SIE ist Mitte/Ende 50, sehr gut gekleidet, perfekt geschminkt auch noch um 17 Uhr. SIE steht in der Obst- und Gemüseabteilung des Bioladens, der selbst um 17 Uhr noch Fülle aufweist, Buntheit, Glanz und Duft. Und. SIE. Fasst. Jeden. Apfel. an. Hebt jeden Apfel hoch, dreht ihn links und rechts herum und legt ihn wieder hin.

Ich schau mir das an, fasse mir ein Herz und sage, so freundlich wie ich nur kann (und es mag sein, dass das nicht ganz rüberkam, weil ich letzte Woche echt durch den Wind war wegen der Hassmorde in Hanau und einem beruflichen Umzug etcpp.): „Also, so im Kontext von Corona und Grippewelle und so, wunder ich mich jetzt schon, dass Sie jeden Apfel aufheben und wieder ablegen.“ „Wieso?“, antwortet SIE, „ich muss doch wissen, ob er in Ordnung ist. Und Sie fassen das Obst doch auch an!!!“ „Ja,“, sage ich, „ich schaue mir den Apfel genau an, dann nehme ich ihn mir.“ SIE schüttelt den Kopf, nimmt den nächsten Apfel in der Reihe und hält ihn mir hin: „SEHEN Sie?!! Der hier hat einen FLECK! Das hätte ich sonst nicht gesehen!“ Ich habe meine Brille nicht auf, aber, was ich erkennen kann, ist eine vielleicht 5 Millimeter kleine hellbraune Stelle. Ich knurre: „Das Leben ist auch nicht perfekt.“ Und gehe.
Die selbe Sache zwei Tage später, nur mit Gurken. Die hat eine andere SIE dann mit beiden Händen hingebungsvoll gedrückt. Und wieder zurück gelegt. Denn sie waren weich. Das wollte sie nicht.

Das Leben ist nicht perfekt. Mitunter ist es so schmutzig und scheußlich und unordentlich, dass es zum Heulen ist. Das Leben hat Dellen, an anderer Stelle Risse, es stinkt hier und da (eigentlich ziemlich oft). Also wir. In der inzwischen propagierten Best-Agerei und für die jüngeren unter uns in der inszenierten, abgepuderten Instagram – Welt darf das aber offiziell nicht vorkommen. Makelloses Altern, gerne auch mit grauen Haaren und Falten heutzutage, aber SICHER NICHT ENDLICH.
Das Sterben, das wir uns so vom Leib halten wollen, ist wie die Geburt ein unangenehmer, schmerzhafter, schmutziger, verschwitzter, alle(s) transformierender Prozess. Es gibt keinen perfekten Tod. Aber für viele, die dies begleiten, ist es eine tiefe, bereichernde Erfahrung. Ich will hier heute nichts schönreden. Ich will sagen, dass wenn wir uns  mit unserer Endlichkeit anfreunden, wir es an manchen Stellen leichter haben werden. Einander näher kommen können.

Also: Nehmt den Apfel wie er ist. Fleck und Delle inklusive. Genießt ihn.

Veröffentlicht auf dem Totenhemd-Blog am 9. März 2020 von Annegret Zander

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