Dagmar Petzgen: „Ich wollte keine Sargverkäuferin werden!“

Dagmar Petzgen arbeitet in Bochum als Bestatterin aus Leidenschaft. Sie kam aus der Wirtschaft und als Quereinsteigerin ins Bestattungsgewerbe. Ausgebildet zur Trauerbegleiterin öffnet sie für die Hinterbliebenen erst einmal Räume, in denen diese ihre Trauer entfalten können. (Hier klicken für den zweiten Teil des Interviews)

Dunkelbunt: Wie sind Sie Bestatterin geworden?
Dagmar Petzgen: Dazu kam ich wie die Jungfrau zum Kinde – Bestatterin hatte nie auf meinem Berufswunschplan gestanden. Ich habe lange in einem großen Unternehmen als Chefsekretärin gearbeitet und hatte mit Organisation und Menschen zu tun. Diesen Job habe ich leider verloren, als es zur Jahrtausendwende in dem Konzern mehrere Entlassungswellen gab. So bin ich arbeitslos geworden und wusste kurioserweise von Anfang an, dass ich die nächste Arbeit nicht suchen kann, sondern dass die nächste Arbeit mich finden wird. Und so kam es nach einer Weile auch. Eine Freundin rief mich an und erzählte mir, dass Dr. Jorgos Canacakis in Essen jemanden fürs Büro sucht. Canacakis ist der „Trauerpapst“ in der Erwachsenenbildung, sympathischerweise ist er Grieche – und ich habe ja einige Jahre in Griechenland gelebt – und außerdem ist er Tenor – und ich singe ja gern.

Lebens- und Trauerbegleiterin

Dunkelbunt: Welche Art von Trauerbegleitung lehrt Canacakis?
Dagmar Petzgen: Er selbst nennt es Trauerumwandlung. Seine Idee: Trauer ist eine Kraft, eine Grundemotion, die uns zur Verfügung steht, um mit Verlusten im Leben fertig zu werden. Canacakis zeigt, wie man mit Verlust umgehen kann. Er übernimmt die Rolle derjenigen, die bei uns in die Kinderwagen geschaut haben und uns das hätten beibringen müssen, es aber nicht konnten. Bei ihm habe ich dann eine Ausbildung als Lebens- und Trauerbegleiterin gemacht. Mir hat diese Arbeit viel gegeben, ich hatte dann aber leider einen Unfall und fiel lange Zeit aus – und Canacakis musste sich einen Ersatz für mich suchen. So hatte ich meinen Job verloren, aber nicht meine Kenntnisse. Meine Ausgangslage war: Ich weiß viel über den Umgang mit Trauer und ich kann gut organisieren. Und wo kann man dies beides am besten zusammenbringen?

Dagmar Petzgen im Gespräch

Dunkelbunt: Beim Bestatter!
Dagmar Petzgen: Genau. Ich wollte aber auf keinen Fall zu einem typischen Sargverkäufer, also zu jemandem, der den Menschen sagt „ach, für Ihren lieben Verstorbenen ist doch das Beste gerade gut genug“ – das ist ethisch nicht meine Wellenlänge – und dann kam ich glücklicherweise in einem Unternehmen unter, wo ich alles machen konnte, vom Abholen bis zur hygienischen Versorgung, vom Trauergespräch bis zur Aufbahrung und so habe ich den Job von der Pike auf gelernt.

Job der Bestatterin von der Pike auf gelernt

Dunkelbunt: Ist dieses Lernen schwierig gewesen?
Dagmar Petzgen: Für mich nicht. Was man fachlich zu lernen hat, das kann jeder. Das Entscheidende ist: Entweder kann man mit Verstorbenen umgehen oder nicht. Wenn man das erste Mal einen verstorbenen Menschen anfasst, dann weiß man, ob man das kann oder nicht. Zugegebenermaßen hatte ich anfangs dann etwas Schwierigkeiten mit einem kalten Stück Fleisch aus dem Kühlschrank – das fühlt sich doch recht ähnlich an. Aber auch mein erster Haussterbefall, der schon eine Herausforderung darstellte, hat mich nicht abgeschreckt – ganz im Gegenteil.
Einerseits gehört ein respektvoller Umgang mit dem Verstorbenen zur Aufgabe. Für mich ist der Umgang mit den Hinterbliebenen besonders wichtig. Es ist die Frage, ob sie nur den Verlust sehen oder ob es auch möglich ist, Perspektiven zu bilden in die Zukunft. Möglicherweise kann ich die Menschen sehen machen, dass auch im größten Verlust etwas ist, was man nehmen kann. Es heißt ja „Abschied nehmen“, es ist nicht nur der Abschied, sondern auch das Nehmen dabei. Das war auch für mich anfangs schwer zu verstehen, wie man etwas nehmen kann, wenn man vor einem riesigen Verlust steht, wenn man seinen Geliebten verliert, oder sein Kind… wie kann es denn sein, dass man dann auch noch etwas herausbekommt? Aber inzwischen habe ich es verstanden – es geht darum, dass man die Gefühle teilt, dass man der Trauer Raum gibt, dass man sie ernst nimmt und anerkennt und dass man immer mit offenen Augen weint.

Trauern mit weggedrehtem Körper?

Dunkelbunt: Aber die meisten Menschen verstecken ihr Weinen am liebsten…
Dagmar Petzgen: Ja, oft noch in einer weggedrehten Körperhaltung. Aber so kann man den anderen nicht erreichen. Dann trauert man nicht im Hier und Jetzt und um den Verlust, der jetzt ist, sondern dann trauere ich um das, was damals, dort gewesen ist. Damals und dort kann mich kein Mensch auf der Welt erreichen. Man bringt ja immer schon Trauer mit und die addiert sich zu dem, was ich jetzt im Moment an Trauergefühlen habe. Wenn beispielsweise schon jemand sein Kind verloren hat und dann seinen Mann verloren hat und dann noch ein Kind verliert… dann stellt sich die Frage: „Was ist falsch gelaufen? Warum muss ich aushalten, dass alle meine Lieben sterben?“

Dunkelbunt: Sie versuchen dann, dem Menschen etwas Tröstliches mit auf den Weg zu geben?
Dagmar Petzgen: Ja, ich versuche zu erahnen, wo für den jeweiligen Menschen eine Perspektive liegen könnte zum Weiterleben. Wie könnte ein Weg aussehen, damit man nicht nur am liebsten selbst sterben möchte?

Gar nicht bei Sinnen am Anfang

Dunkelbunt: Für die Trauernden ist der Verlust ja noch sehr, sehr frisch, wenn sie beim Bestatter sind. Eigentlich sind die Hinterbliebenen ja noch gar nicht richtig bei Sinnen so am Anfang…
Dagmar Petzgen: Ja, schon, aber dennoch kann man ganz kleine Samen von Hoffnung und Perspektive einpflanzen… es ist eigentlich der Beruf des Gärtners… ich sage auch regelmäßig „das ist nichts für jetzt und für sofort, aber wenn Sie eine Weile lang getrauert haben, dann werden Sie sich vielleicht an den einen oder anderen Satz erinnern…“

Dunkelbunt: Gibt Ihnen denn ein Gespräch mit Angehörigen auch etwas?
Dagmar Petzgen: Ja, unbedingt. Es gibt kaum ein Gespräch, das ich nicht selbst auch als gut empfinde. Schwierig sind die Gespräche, wenn die Familien mit einem Verlust dastehen und in der Familie ist nichts geklärt. Manchmal gibt es noch innere Bedarfe, wenn z.B. der Vater gestorben ist und es sind drei Kinder da und jeder zieht noch emotional an dem Vater, weil er denkt, da müsste noch etwas kommen, weil man nicht genug bekommen hat. Oder wenn es um Geld geht und die typische Leichenfledderei losgeht – was gottseidank sehr selten passiert. Dann habe ich echt Mühe und beschränke mich auf das Organisatorische als Bestatter.
Aber oft geht es darum, einem Menschen erstmal nur Zeit zu geben. Ich beginne jedes Trauergespräch mit den Worten „Erzählen Sie mir was“. Dann fragen die Menschen meist zurück „Was soll ich denn erzählen?“ und ich antworte: „Was sie möchten.“ Und der eine, der sich nicht öffnen möchte, der sagt dann, welche Form der Bestattung er wünscht und wir handeln alles organisatorisch ab. Und der andere muss erstmal erzählen, wie die Sterbesituation war. Das sind zwischen fünf und zehn Minuten, die die Menschen Zeit haben, zu sprechen, und das nimmt den Druck aus der ganzen Situation. Dann fühlen sie sich als Mensch gesehen, anerkannt. Das schafft Vertrauen und das ist wichtig, denn die Menschen haben ja Angst, wenn sie zum Bestatter kommen.

Dunkelbunt: Die Angehörigen haben gerade einen schweren Verlust erlebt, sitzen beim Bestatter und wissen gar nicht so recht, wie jetzt alles weitergeht, ob sie mit den Finanzen klarkommen…?
Dagmar Petzgen: Ja, und deshalb ist es gut, erstmal einen offenen Raum zu schaffen. Wenn man sich diese Zeit dann genommen hat, ist es auch einfacher zu fragen, was sich die Leute denn für die Beerdigung vorstellen. Und manchmal gibt es auch gute Alternativen, die ich den Angehörigen vorstellen kann. Manchmal sitzt aber der Schock beim ersten Gespräch noch so tief, dass ich nur die wichtigsten Eckpunkte aufnehme und alles Weitere auf ein zweites Gespräch verschiebe. 

Dunkelbunt: Sind Sie zufrieden mit Ihrer Berufswahl?
Dagmar Petzgen: Das ist genau mein Ding! Ich habe einmal einen Kollegen getroffen aus meiner Zeit im großen Konzern. Und als ich ihm erzählte, dass ich jetzt Bestatterin bin, hat er sich auf die Schenkel geklopft vor Lachen. Er meinte, das passe genau zu mir, weil ich mich auch damals schon um alle gekümmert hätte.
Dazu kommt natürlich noch, dass ich durch meine Ausbildung zur Trauerbegleiterin weiß, was den Menschen in seiner Trauer gut tut – und von diesem Wissen gebe ich etwas weiter.

Fällt die Konfrontation mit Trauer schwer?

Dunkelbunt: Ist es für Sie nicht schwierig, mit so viel Trauer konfrontiert zu werden?
Dagmar Petzgen: Es gibt Momente, da steigen mir die Tränen in die Augen. Dann sage ich: „Sie merken, mich berührt Ihr Schicksal. Meine Tränen kommen aus meinem Mitgefühl für Sie.“ Es ist in Ordnung, dass mir die Tränen kommen. Das macht uns Menschen doch aus. Viel schlimmer wäre, wenn ich das nicht mehr fühlen könnte. Für die eigene Seelenhygiene wäre es auch schlecht, wenn ich mir die Tränen immer verbieten würde. Wenn man weinen muss, hat das Thema ja oft mit der eigenen Biographie zu tun – und warum zum Teufel soll man nicht auch weinen darum? Es ist doch nicht verboten, Gefühle zu haben. In einem Gespräch, in dem mir vertrauensvoll etwas erzählt wird, bewegen wir uns ja auch weg von der Bestatterrolle als Dienstleisterrolle. Dann wird es quasi ein persönliches Gespräch.

Dunkelbunt: Wann ist eine Bestattung gelungen?
Dagmar Petzgen: Wenn sie schön war. Wenn die Kunden im Nachhinein eine Danksagung aussprechen, dann entschuldigen sie sich manchmal fast dafür, dass sie die Trauerfeier schön fanden. Aber es darf schön sein, dieses Bild, auf das man als Letztes schaut. Das hat mit Geld nichts zu tun, sondern damit, dass es mit Liebe und Bedacht gemacht ist, mit Aufmerksamkeit. Die Mühe, die man dort hineinsteckt, ist immer richtig. Das Schöne tröstet.

Interview: Beate Schwedler

Hier finden Sie den zweiten Teil des Interviews, in dem es mehr um das Trauern geht.

 

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