Schreiben als Trauerbewältigung

Johanna Koers ist mit ihren 30 Jahren eine immer noch junge Frau, die aber schon früh und ungewöhnlich oft mit Sterben, Tod und Trauer in Berührung gekommen ist. Schon als Kind musste sie lernen, dass nicht nur alte Menschen sterben, sondern auch Gleichaltrige, so wie ihr 9-jähriger Freund. Diese schmerzlichen Verluste haben sich bei ihr zu einer Angststörung aufgebaut, die sie weiterhin begleitet und die sie mit herkömmlicher Psychotherapie nicht bewältigen konnte. Trotzdem hat sie sich dem Leben gestellt und sowohl beruflich als auch privat viel Verantwortung übernommen. Sie lebt mit ihrem Mann und sechs Kindern  – leiblichen Kindern, Stiefkindern und einem Pflegekind – zusammen und arbeitet zusätzlich als sozialpädagogische Intensivbetreuerin mit weiteren Kindern bei sich zu Hause.

Dass sie bei alledem noch die Zeit und die Kraft findet, Romane zu schreiben, ist schon erstaunlich. Aber das Schreiben gibt ihr auch Kraft, hilft ihr, ihre Ängste zu verarbeiten, loszulassen und sich sozusagen selber zu therapieren. Nun ist es aber eine Sache, sich hinzusetzen und kurze Texte, die ja sogar fragmentarisch sein dürfen, aufzuschreiben und eine ganz andere, lange Romane zu konzipieren und durchzuhalten.

Zwei ihrer Roman habe ich gelesen.

Cover

Johanna Koers
Da oben sind wir glücklich
Tribus Verlag 2020,
401 S., 16,90 €,
ISBN: 978-3-7531-0398-3

 

 

 

 

 

 

Die Fortsetzung „Und da oben ist der Himmel so nah“ ist noch nicht erschienen und liegt mir nur in der Rohfassung, also als noch nicht lektoriertes und korrigiertes Manuskript vor und ist genauso umfangreich.

Diese beiden Bücher sind Johanna Koers besonders wichtig und haben sie weiter gebracht. Ihre Protagonisten sind ihr ans Herz gewachsen und haben offenbar ein Eigenleben entwickelt.

Im Mittelpunkt steht Ellie, eigentlich Elena, eine zweiundzwanzigjährige, schöne junge Frau, eine temperamentvolle Italienerin, die aber in Deutschland aufgewachsen ist. Wenn es emotional wird, rutscht es ihr schonmal auf italienisch heraus. Sie lebt in Hamburg, studiert, singt in einer Band und das Klettern ist ihr Hobby. (Und das „da oben“, das in beiden Tieln vorkommt, bezieht sich auf das Klettern und nicht etwa, wie ich zunächst gedacht habe, auf das, was wir Himmel nennen.)  Was sie macht, das macht sie gut. Vor allem aber lebt sie in einer glücklichen und stabilen Beziehung mit ihrem Freund Alex. Ihr Leben scheint perfekt zu sein. „Perfekt“ ist ein Wort, das sehr häufig vorkommt, fast immer aus Ellies Sicht. Ich interpretiere das so, dass es einem, wenn man ein großes Problem hat, so vorkommt, als ob das Leben perfekt wäre, wenn dieses Problem nicht da wäre und das Leben beherrschen würde. Aber das Leben von Ellie war auch am Anfang des Romans nicht perfekt, denn sie hatte vor einigen Jahren erst ihre Tante, dann ihr kleine Schwester, die damals also fast noch ein Kind  war, an Gehirntumor verloren. Sie hat nicht nur den Verlust hinnehmen, sondern den ganzen Sterbe- und Leidensprozess miterleben müssen.

Und nun wird auch bei Ellie ein Gehirntumor festgestellt. Sie weiß also, was auf sie zukommt, bzw. glaubt es zu wissen. Sie will ihren Freund nicht damit belasten  und verlässt ihn, ohne ihm einen Grund zu nennen. Irgendwann sieht sie selber ein, dass das ein Fehler war und überlässt ihm selbst die Entscheidung, ob er unter diesen Umständen bleiben will oder nicht. Und natürlich bleibt er und steht ihr zur Seite, wenn auch zu Anfang relativ hilflos. Wer aber nicht hilflos und ihr von Anfang an ganz stark und selbstlos zur Seite steht, das ist ihre ältere Schwester Juli, die für mich die wahre Heldin vor allem des ersten Buches ist. Ellie macht viele Fehler, ist als Patientin oft ungerecht, auch zu ihren geliebten Angehörigen manchmal zickig und muss des öfteren den Kopf gewaschen kriegen, was zum Glück auch passiert. Aber sie sagt auch sehr kluge Sachen und stellt sich den strapaziösen Behandlungen, der Chemotherapie, der Operation, einer halbseitigen Lähmung, sie kämpft – und sie gewinnt den Kampf. Aber sie weiß selbst, dass das nur ein „vorerst“ ist und der Tumor jederzeit wiederkommen kann.

Und das ist im zweiten Roman – der ja noch nicht erschienen ist – der Fall. Es ist fünf Jahre später und Ellie stellt überglücklich fest, dass sie schwanger ist. Aber am selben Tag wird auch festgestellt, dass der Tumor zurück ist. Und Ellie fällt eine Entscheidung, die weder ihr Freund, noch ihre Schwester, geschweige denn ihr Arzt – er hat schon Ellies kleine Schwester behandelt und zu der gesamten Familie ein sehr persönliches Verhältnis entwickelt – verstehen und akzeptieren kann. Ellie lehnt jede Behandlung ab, geht also sehenden Auges in den unabweichlichen Tod, um ihr Kind zur Welt zu bringen und ihr Leben weiterzugeben. Alle Versuche, sie zu überzeugen oder wenigstens zu überreden, das Kind abzutreiben und den Kampf ums Überleben noch einmal auf sich zu nehmen, prallen an ihr ab. Damit bringt sie ihre Angehörigen in Schwierigkeiten, die ihr dennoch beistehen und ihr helfen so weit das überhaupt nur möglich ist. Tatsächlich bringt sie eine gesunde Tochter zur Welt und hat noch ein paar Monate (die ihr nicht prognostiziert waren), um mit ihrer Familie zu leben. Der Sterbeprozess  ist jedoch sehr hart, auch für die Leser. Aber mit ihrem Tod ist das Buch noch nicht zu Ende. Fünfeinhalb Jahre später lernt ihr Freund tatsächlich eine andere Frau kennen und lieben, so wie Ellie es ihm vorausgesagt, ja sozusagen von ihm verlangt, wie sie sich es für ihn gewünscht hat. Und 53 Jahre später – er ist also alt geworden – stirbt auch er und steht im Jenseits vor ihr.

Der oft so lapidar gesagte Satz „Das Leben geht weiter“ hat also mehrere Bedeutungen und bezieht sich sowohl auf das Diesseits als auf das Jenseits, als auch darauf, das Leben weiterzugeben.

Die Bücher sehen aus wie Unterhaltungsromane, wie typische Liebesromane und sind tatsächlich auch so geschrieben. Es gibt romantische Szenen, sogar Sexszenen, an Liebesbeteuerungen – auf deutsch und italienisch – wird nicht gespart. Ich hätte nicht gedacht, dass das, was Johanna Koers vermitteln möchte, auf diese Weise möglich ist und dass man als Leser, ja sogar als Leser, der sterbenskranke Menschen betreuen möchte, daraus etwas lernen kann. Aber das ist durchaus möglich und sogar vielfältig.

Da ist das widersprüchliche und manchmal schwierige und überempfindliche Verhalten von Patienten. Zum Beispiel ist Ellie tief gekränkt und fühlt sich verhöhnt, als eine Physiotherapeutin zu ihr frisch und fröhlich ins Krankenzimmer kommt und ruft:“So, jetzt machen wir Sport!“ Ich musste mir erst Mühe geben, um das zu verstehen, was ich zunächst ganz harmlos hingenommen habe.

Auch für die Angehörigen gibt es ein Auf und Ab, ein Verdrängen, Schön- oder Schlechtreden. Es wird deutlich, dass es wichtig ist, den Gesprächen nicht aus dem Weg zu gehen, überhaupt etwas zu sagen und weniger Angst zu haben, es könnte das Falsche sein. Man kann auch den Protagonisten – sogar  der neuen Partnerin von Alex – einiges abgucken bzw. ablauschen, wie man miteinander redet, wie man empathisch und ehrlich ist und vor allem offen.

Die Lektüre war für mich – wider Erwarten, wie ich zugeben muss – ein Gewinn und der Kontakt zu Johanna Koers erst recht. Als wir miteinander telefoniert haben, klang sie sehr fröhlich und lebensbejahend und machte auf mich den Eindruck, dass sie ihre traurigen Erfahrungen gut integrieren könnte – für sich, ihre Familie und die ihr anvertrauten Kinder.

Text: Jutta Seehafer

 

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