Neue Wege in der Palliativmedizin

Prof. Dr. Lukas Radbruch ist Direktor der Malteser-geführten Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin des Universitätsklinikums Bonn. In vielen verschiedenen Projekten erforscht er mit seinem Team aktuelle Fragen der Palliativmedizin. Forum Dunkelbunt befragte ihn zur Lebensqualität am Lebensende und auch dazu, was sich in Krankenhäusern ändern sollte:

„Therapieziel-Änderung erfolgt oft zu spät“

Forum Dunkelbunt: Mit dem Projekt CoPaPa untersuchen sie, wie sich der Übergang im Krankenhaus von der kurativen zur palliativen Behandlung gestaltet. In der Praxis, sagen Sie, erfolgt die Therapieziel-Änderung in der Regel zu spät und häufig erst kurz vor dem Versterben. Sie sagen, dass Palliativpatienten im Krankenhaus „sozial konstruiert“ werden. Was meinen Sie damit?

Prof. Dr. Lukas Radbruch: Trotz aller Verbesserungen in der Hospiz- und Palliativversorgung erleben wir immer noch, dass Patienten zu lange noch Behandlungsmaßnahmen unterzogen werden, die ihnen gar nicht mehr helfen können, sie aber mit den Nebenwirkungen in der kurzen noch verbleibenden Lebenszeit zu stark belasten. Zum Beispiel eine Chemotherapie, die zu viel Übelkeit und Schwäche führt, aber die Krebserkrankung nicht mehr aufhalten kann. Die Fortsetzung solcher Behandlungsmaßnahmen sind oft Hilflosigkeit auf Seiten der Behandler und Verzweiflung auf Seiten der Patienten und Angehörigen. Hier wäre eine frühere Einbeziehung der Palliativversorgung wünschenswert, wo über solche Ängste gesprochen werden kann und realistische Behandlungsziele vereinbart werden können.

„Wichtig ist, dass Behandler die palliative Situation erkennen“

Diese frühe Einbeziehung funktioniert aber nur, wenn die Behandler in den anderen Krankenhausabteilungen oder in der Arztpraxis die palliative Behandlungssituation erkennen, also den betroffenen Patienten als Palliativpatienten sehen. Dieser Prozess des Erkennens wird als soziale Konstruktion bezeichnet.

Nur wenn diese Bereitschaft besteht, die fortlaufende Verschlechterung bei einer fortschreitenden Erkrankung und die nur noch kurze verbleibende Lebenszeit wahrzunehmen, kann gemeinsam mit dem Patienten, den Angehörigen und dem Palliativteam überlegt werden, welche Behandlungsmaßnahmen (noch) angemessen sind, welche Maßnahmen keinen ausreichenden Erfolg mehr versprechen und welche jetzt vielleicht zu belastend sind.

Krankenhaus-Alltag zwischen Heilen und Akzeptanz des Unheilbaren.

Forum Dunkelbunt: Was sollte sich in dieser Hinsicht in den Krankenhäusern ändern und – kann sich überhaupt etwas ändern?

Prof. Dr. Lukas Radbruch: Die Palliativmedizin ist ja mit dem Anspruch angetreten, hier nicht nur in den Krankenhäusern, sondern in allen Bereichen des Gesundheitswesens etwas zu ändern im Umgang mit schwerstkranken und sterbenden Menschen. Durch die Einführung von Palliativmedizin als Pflichtfach im Medizinstudium vor einigen Jahren hat mittlerweile jeder neu ausgebildete Arzt in Deutschland zumindest einige Grundkenntnisse in der Palliativversorgung. Dennoch ist es noch ein weiter Weg.

„Palliativmedizin ist Pflichtfach im Medizinstudium“

Wir versuchen in den großen Tumorzentren, als Teil der Routine nach Symptomen und psychosozialen Problemen fragen zu lassen. Wenn die Patienten in dieser Befragung einen Schwellenwert überschreiten, sollte dann automatisch das Palliativteam dazu gerufen werden. Mit einer solchen Berücksichtigung von Palliativversorgung im Routineablauf der anderen Krankenhausabteilungen können wir langfristig sicherstellen, dass jeder Patient, der dies braucht, auch den Zugang zu einer angemessenen Palliativversorgung findet.

„Ich könnte ein Buch schreiben“

Forum Dunkelbunt: Sie haben das Projekt „Ich könnte ein Buch schreiben“ ins Leben gerufen – worum geht es dabei und wie wird das Angebot angenommen?

Prof. Dr. Lukas Radbruch: Wir haben in einigen Forschungs- und Lehrprojekten das Aufschreiben von Erinnerungen für die von uns behandelten Palliativpatienten angeboten. Zurzeit haben wir mehrere ehrenamtliche Mitarbeiter, die darin geschult sind, Patienten zu wichtigen Punkten ihrer Lebensgeschichte zu befragen, und aus diesem Interview eine Geschichte zu schreiben. Eine solche Arbeit an der Lebensgeschichte der Patienten hilft nicht nur, wichtige Erinnerungen für die Angehörigen festzuhalten, sondern kann oft auch dem Patienten helfen, einen Sinn im Leben zu finden. Worauf bin ich besonders stolz in meinem Leben? Was hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin? Die Antwort darauf liegt oft in der eigenen Geschichte, und kann mit dem Erzählen und dem Lesen der erzählten Geschichte deutlich werden.

„Gute Sache für Patienten mit kleinen Kindern“

Forum Dunkelbunt: Ein weiteres Projekt bietet Ihren Patienten die Möglichkeit, ihre Lebensgeschichte als Hörbuch aufzunehmen. Warum ist Ihnen so wichtig, dass Menschen ihre Lebensgeschichte erzählen können und wem hilft es besonders?

Station für palliative Therapie Dr. Mildred Scheel Haus

Prof. Dr. Lukas Radbruch: In Zusammenarbeit mit der Journalistin Judith Grümmer bieten wir die Erstellung eines Familienhörbuchs für Patienten mit kleinen Kindern an. Dieses Angebot wird bis ins nächste Jahr noch von der RheinEnergieStiftung gefördert. Wir überlegen gerade, wie wir es danach mit Spendenmitteln fortsetzen können. Die Patienten ziehen sich mehrere Tage mit der Journalistin zurück und erzählen lange aus ihrem Leben, alles was sie gerne ihren Kindern weitergeben möchten. Daraus wird dann ein Hörbuch, mit passender Musik und Begleitbroschüre. Der Klang der Stimme, mit der selbst ausgesuchten Musik im Hintergrund, macht die Hörbücher zu einem ganz eigenen Erlebnis für die Familie (und auch für mich, wenn ich später dann mal reinhören darf).

Forum Dunkelbunt: Das Ehrenamt spielt eine besondere Rolle in der Hospizbewegung. Wie sehen Sie die Zukunft der ehrenamtlichen Begleitung in der hospizlichen Arbeit – wird ihre Bedeutung zunehmen und ihre Arbeit sich professionalisieren?

Prof. Dr. Lukas Radbruch: Das Ehrenamt ist für uns deshalb so wichtig, weil es auf der einen Seite den Patienten und ihren Familien einen Ansprechpartner auf Augenhöhe gibt. Jemand, der ohne eigene Ansprüche kommt, der am Bett sitzt und mit dem Patienten redet – oder eben auch nicht, wenn Zuhören oder gemeinsam schweigen angesagt ist. Und auf der anderen Seite sind die ehrenamtlichen Begleiter die Botschafter der Hospiz- und Palliativversorgung. Sie sprechen mit ihren eigenen Familien, mit Freunden und Kollegen über das was sie tun, und tragen damit ganz wesentlich dazu bei, die Themen Krankheit, Sterben und Tod wieder in die Gesellschaft zu bringen und zu enttabuisieren.

Wir sehen schon längst eine Professionalisierung des Ehrenamtes, und das ist auch gut so. Die ehrenamtlichen Begleiter in den ambulanten Hospizdiensten haben einen längeren Schulungskurs hinter sich und werden von geschulten Koordinatoren begleitet. Sie wissen genau, was sie dürfen und wo die Grenzen der ehrenamtlichen Begleitung liegen. Deshalb ist es auch wichtig, immer wieder an die ursprüngliche Motivation des ehrenamtlichen Engagements zu erinnern, und darauf zu achten, dass die Bürokratie nicht überhandnimmt.

Die Bedeutung des Ehrenamtes wird in Zukunft sicher weiter steigen, aber die Aufgaben werden sich auch verändern. Die Schulung von Ehrenamtlichen in der Biographiearbeit (siehe oben) ist ein Beispiel dafür.

Prof. Dr. Lukas Radbruch

 

Zur Person:

Nach dem Studium der Humanmedizin in Bonn promovierte er 1987 an der dortigen Chirurgischen Klinik. Nach dem Studium war er in der Anästhesiologie des Universitätsklinikums Köln tätig, wo er seit 1995 die Schmerzambulanz geleitet hat und sich im Jahr 2000 habilitiert hat. Im Jahr 2003 trat er die neu eingerichtete Grünenthal-Stiftungsprofessur für Palliativmedizin an der RWTH Aachen an. Mit dem Wechsel auf den Lehrstuhl für Palliativmedizin der Universität Bonn ist die Leitung des Zentrums für Palliativmedizin am Malteser Krankenhaus Bonn / Rhein-Sieg verbunden, sowie die Leitung der neu eingerichteten Klinik für Palliativmedizin am Universitätsklinikum Bonn. Von 2007 bis 2011 war Prof. Radbruch Präsident der European Association for Palliative Care. Seit 2011 ist er Vorstandsmitglied der International Association for Hospice and Palliative Care.

Interview: Beate Schwedler
15.12.2019

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