Susanne Haller: „Das absehbare Ende der Beziehung wird einkalkuliert“

Der Zusammenhang zwischen Beziehungsarbeit und sicherem Abschied fordert alle, die im hospizlichen Bereich arbeiten. Wie kann man einerseits gute Beziehungen herstellen mit Menschen, die sterben werden und gleichzeitig für sich selbst die persönliche Balance finden bei den vielen unausweichlichen Abschieden, die man dabei erleben wird? Dazu führten wir ein Gespräch mit Susanne Haller, Leiterin der Elisabeth-Kübler-Ross-Akademie® des Hospizes Stuttgart:

Frage: Sie haben im Institut für Forschung und Entwicklung der Uni-Witten/Herdecke einen bemerkenswerten Vortrag gehalten über das Spannungsfeld zwischen Beziehung und Abschied für Hospizmitarbeitende, die „Caregiver“. Was bedeutet das genau?

Susanne Haller: Der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung für eine bedürfnisorientierte Betreuung ist das Ziel jeder palliativen und hospizlichen Begleitung. Diese Beziehung zeichnet sich durch einen schnellen und tiefen Bindungsaufbau aus – wir haben ja nicht viel Zeit! Dadurch wird Nähe erlebbar. Um diese Bindung eingehen zu können, müssen die Patient*innen der Fachperson vertrauen können. Die Fachperson ihrerseits muss Empathie und Mitgefühl aufbringen. Gleichzeitig impliziert die Arbeit in diesem Feld am Beginn auch ihr baldiges Ende durch den Tod der zu Begleitenden. Also das absehbare Ende der Beziehung wird bereits „mit-einkalkuliert“. Einerseits macht das die Beziehungsgestaltung für Caregiver durch den begrenzten Zeitraum einigermaßen überschaubar. Andererseits sind sie herausgefordert in der hohen Kunst zwischen dem Ausbalancieren von Nähe geben und eigene Grenzen wahren. Sie erleben somit im beruflichen Setting ein andauerndes Spannungsfeld zwischen Beziehungsaufbau und Abschiednehmen.

Hohe Kunst: Das Ausbalancieren von Nähe geben und eigene Grenzen wahren

Frage: Vielleicht kann man sagen: Je besser die Beziehung war, desto größer die Trauergefühle? Wie können Hospizmitarbeitende damit umgehen, ohne auszubrennen?

Susanne Haller: So würde ich das nicht formulieren. Nach meiner Erfahrung können „große“ Trauergefühle gegenüber verstorbenen Patient*innen häufig etwas mit meiner eigenen Geschichte zu tun haben. Das Ausbrennen ist immer eine Summe von mehreren Faktoren, mit dem ein Mensch aus seinem Gleichgewicht gerät. Die vielen Abschiede in der Arbeit können ein Aspekt davon sein. Da würde ich sorgsam unterscheiden. Der institutionelle Umgang im Abschiednehmen von Patient*innen und Gästen und die gelebten Rituale in der Hospiz- und Palliative Care können in der Verarbeitung der vielen Tode eine unterstützende Wirkung haben. Wir müssen uns vielmehr auch klarwerden, worum wir eigentlich trauern. Das hat schon Elisabeth Kübler-Ross mit ihrer Hartnäckigkeit immer wieder betont: dass der Umgang mit Sterbenden und Trauernden es unabdingbar macht, mit dem eigenen Gefühlshaushalt ins Reine zu kommen. Wenn der Tod zum Umfeld einer Tätigkeit gehört, werden Caregiver zwangsläufig mit der eigenen Betroffenheit konfrontiert und werden zudem an ihre eigenen Trauererfahrungen erinnert. Das ständige Erleben von Sterben und Tod und die häufigen Verlusterfahrungen können stark belasten.

Ja, wir trauern in der Arbeit, aber nicht wie um unsere eigenen nächsten Angehörigen.

Ein kanadischer Palliativmediziner, Balfour Mount, hat das mal auf den Punkt gebracht. Sinngemäß sagte er, dass sich auch unsere „privaten“ Verluste nicht in einem Vakuum befinden. Natürlich beeinflussen sie uns und können, ausgelöst durch andere Ereignisse, auch im beruflichen Kontext zum Vorschein kommen.

Ja, wir trauern in der Arbeit, aber nicht wie um unsere eigenen nächsten Angehörigen. Und es heißt auch nicht im Umkehrschluss, dass, wenn ich nicht ausreichend trauere, ich keine gute Beziehungsarbeit geleistet habe.

Frage: Was ist der Unterschied zwischen privater Trauer und den Trauergefühlen der Caregiver?

Susanne Haller: Die Trauer ist die emotionale Antwort auf einen Verlust. Die Ausweitung des Begriffs „Trauer“ nicht nur um geliebte Menschen, sondern auch um etwas, was in Folge zu einer sinnerfüllten tiefen Beziehung beziehungsweise Bindung bestand. Diese Definition kann dann auch zum Beruf und/oder zu Patient*innen ausgeweitet werden.

Unterschied zwischen privater und beruflicher Trauer

Hier ein Erklärungsversuch:

In meiner „privaten Trauer“ trauere ich um einen geliebten Menschen, um meinen verlorenen Lebensentwurf, um meine Gesundheit, um meine eigens tief gefühlten Verluste! Ich erlebe dabei starke Gefühle wie Trennungsschmerz, Ohnmacht, Hilflosigkeit, Verlassenheit, Wut, Traurigkeit, etc. … in einer nicht bisher bekannten Tiefe.

In meiner „beruflichen“ Trauer trauere ich um eine sinnstiftende Begleitung/Beziehung. Ich erlebe ein Berührt-sein vom Schicksal des Begleitenden, ein Erschüttert-sein, manchmal auch zweifelnd, ich bin beeindruckt von der Stärke des getragenen Schicksals und Leids, ich verspüre Erleichterung, weil wir es „geschafft haben“, es „gut gemacht“ haben, …

Die Risikofaktoren bei meiner „privaten“ Trauer sind viele Tode in kurzer Zeit, die Art des Todes zählt dazu sowie wenn ich meine eigenen Ressourcen nicht nutzen kann.

Die Risikofaktoren bei meiner „beruflichen“ Trauer sind eigene aktuellen Verluste, die Länge des Verlaufs, eine nicht gelungene Verabschiedung, die negative Bewertung des Sterbeprozesses „good death“ (dadurch erleben wir Frustration und Hilflosigkeit) und die biografische Resonanz, die Patient*innen in mir wecken.

 

Frage: In allen Berufsgruppen ist es wohl so, dass bestimmte Menschen bestimmte Berufe ergreifen. Wie sieht das bei Hospizmitarbeitenden aus – sind hier überwiegend Menschen mit dem sogenannten Helfersyndrom unterwegs? Und was bedeutet dies für die Arbeit?

Susanne Haller: Vielleicht hat jeder von uns seinen Anteil an der Erfahrung des Nichtbekommens dessen, wonach wir begehren, oder der Auseinandersetzung mit dem, was wir nicht wollen. Insofern wissen wir was Leiden ist. „Es scheint, dass Leiden eine Wirklichkeit des Lebens ist.“ sagt Ram Dass. Ich würde es nicht als „Helfersyndrom“ beschreiben, sondern als unser innewohnendes Mitgefühl mit dem Impuls, Leiden zu lindern. Und Mitgefühl und unsere Empathie-Fähigkeit ist die Grundlage unsere Arbeit. Also auch dort stehen wir im Spannungsfeld zwischen Mitgefühl und Mitleid. Wir müssen uns mit unserer eigenen Leid-Geschichte beschäftigen, damit wir Patient*innen in ihrem Leid begleiten können. Wir sind alle in unserem eigenen Leid erinnert, um Menschen zu helfen. Aber wenn wir mitleiden, sind wir arbeitsunfähig. Mitgefühl (Compassion) beschreibt ein Gefühl der Anteilnahme und Trauer für jemand anderen, der von Leid oder Unglück geplagt ist, begleitet von dem starken Wunsch, den Schmerz oder das Leid zu mindern (Figley, 2002). Wie wir mit Leid umgehen können, bedingt sehr stark die Weise, auf die wir andere begleiten können. Die Frage ist dabei eher „Was lässt uns Mitgefühls-Müde werden? Was belastet uns? Was lässt uns unsere Energie verlieren? Was stresst uns?“ und „Was erhält uns gesund und lässt uns wachsen im Angesicht des vielen Leidens, dass wir erleben und sehen?“

Welche professionelle Trauer-Kunst passt zu Ihnen?

Welche professionelle Trauer-Kunst passt zu Ihnen? Es gibt verschiedene Arten der „Kunst“ des Umgangs. Genauso wie es verschiedene Arten von Kunst gibt.

Frage: Welche Aspekte sind Ihrer Meinung nach außerdem noch wichtig für die Beziehungsarbeit in Hospizen?

Susanne Haller: Sogar als das Wichtigste in der Arbeit mit Patient*innen und Gästen sowie deren Angehörigen schätze ich die Identifikations-, Projektions-, Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomene ein. Die biografische Resonanz, die auch meine Trauergefühle beeinflussen können, stellen sich in der Arbeit ganz schnell ein. Der erste Schritt ist das Bewusstmachen der Phänomene, um weiter professionell handeln zu können. Hilfreich dabei, und auch der höchste Schutzfaktor in der Arbeit mit schwerkranken und sterbenden Patient*innen, ist das Team. Dort kann ich Entlastung erfahren und Entlastung geben. Dazu gehört auch ein erfolgreicher Supervisionsprozess mit dem ganzen Team.

Und der Pflegekräftemangel?

Frage: Frau Haller, Sie beschäftigen sich schon lange mit den Randbedingungen der Hospizarbeit, insbesondere auch für die Träger dieser Arbeit, die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden in Hospizen. Wie ist deren Situation – gibt es auch in Zukunft genug motivierte Mitarbeitende oder bemerkt man hier auch den Pflegekräftemangel?

Susanne Haller: Das klassische Ehrenamt der Hospizbewegung hat sich schon lange verändert! Beispielsweise hat sich die Einsatzbereitschaft der Ehrenamtlichen durch deren Berufstätigkeit sehr verringert. Sie sind nicht mehr so häufig einsatzbereit und flexibel wie früher.

Hier gilt es, sich entsprechend kreativ und flexibel auf die Bedürfnisse der „neuen“ ehrenamtlichen Mitarbeitenden einzulassen. Wir brauchen die Ehrenamtlichen und unsere Anstrengungen sollten dahingehend verändert werden. Das erfordert eine hohe Anpassungsfähigkeit der Koordinator*innen und ein Anpassen der Qualifizierungen und der Einsätze an die Lebenswelt der heutigen Ehrenamtlichen.

Für das Hauptamt gilt: Wir spüren zwar vereinzelt einen Pflegekräftemangel, aber der Palliativ- und Hospizbereich ist genau der Bereich und ein Auffangbecken für alle, die sagen: „so wollte ich schon immer pflegen – hier kann ich als ganzer Mensch sein“. Wie lange dieses „Glück“ noch anhält, kann ich nicht orakeln ;).

Frage: Welche Formen der Unterstützung wären wünschenswert für die Hospiz-Mitarbeitenden?

Susanne Haller: Das haben sie eigentlich schon. Supervision und Fallbesprechungen sind die Regel in der Arbeit mit schwerkranken, sterbenden und trauernden Menschen. Wichtig, und das ist ganz individuell, ist die Bereitschaft zur Selbstreflexion. Mit der Gabe zur Selbstreflexion ist es möglich, eine lange Zeit in diesem Bereich zu arbeiten und gesund zu bleiben.

Interview: Beate Schwedler

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