Jürgen Wiersch: Tumoresken

Jürgen „Kalle“ Wiersch, Jahrgang 1958, war ein deutscher Schriftsteller, Schauspieler und Pädagoge. Er gilt als Mitbegründer des Poetry Slam. Mit der Krebserkrankung, die für ihn zum Tod führte, setzte sich Kalle genau so auseinander, wie er es immer getan hatte: auf literarischem Weg. So entstanden die „Tumoresken“, die Kalle begleitet von Reinhard Timmer an der Gitarre auf die Bühne brachte. Hier eine Auswahl:

hat er humor
ob ich ihn wohl
kaputtlachen kann
oder zieht er sich bloß
beleidigt zurück
wird noch aggressiver
und breitet sich
im ganzen körper aus
dann wäre selbst der krachigste
geistesblitz
kein witz mehr
die wetten laufen
frühling sommer herbst
und winter
ups und downs
ach wenn das keine lust mehr ist
seinen narren zu versuchen
bleibt ja nur noch
angststarre
erfülln einen lauter
todeszellen
kann ich mir schon denken
längst fühle ich aber
tumoriges
da lach ich doch lieber
wo ich mir nicht sicher bin
das ist ja mein leben

wenn die chemie stimmt
allen meinen lieben

haben
habe ich weniger auf dem kopf
dafür blankeren putz
nacktes
die stirn bieten
kannst du jetzt küssen
meine neue schnittstelle
von haben und sein

Jürgen Kalle Wiersch

alles gute!
schicksal
mag ich
mich nicht fügen
hohe werte
und noch positivere
befunde
wenn das hoffnung gibt
kann ich nur fröhlich
mein unheil stiften

Kalle Wiersch

gott gegenüber muss ich
mal langsam gnädig werden
so ewig in unfrieden leben
mit einer kompromisslosen
herrlichkeit
und den fehlbaren geist
zu missbrauchszwecken
nicht selten nutzen
wie feindselig solche tränen sind
die mir und aller welt
dann übrig bleiben
und leider der saure schweiß
des angesichts
es soll ein bitteres dogma
zwischen uns sein
oder
vielleicht ist der bann ja gebrochen
nehme ich dich jetzt mal
väterlich in den arm
als sohn bin ich dann
ist eigentlich logisch
verloren
aber ich könnt ein ganz reizender sein
und wär zur nächsten
nächstennächsten
liebe
für dich gewonnen
und freund
ist das nicht wunderschön
zusammengedichtet

hör dir den klatschmohn an

 

übern berg bin ich nicht
ich throne
auf mist und scherben
endlich zufrieden
als souverän
meiner unzulänglichkeiten
ei ist das ein glück
alles kaputt
gleich bin ich das kind
das mit den egobausteinen
hoch hinaus will
und dann wie nichts
die familieaufstellung
zack bum und peng
welche großartige therapie

 

wir wissen gar nicht
wie schlecht es uns geht
ach und wie gut
dass niemand weiß
wo ich meinen schatz
umklammert halte
wie märchenhaft
leider
bei allem was mir heilig ist
bin ich doch analphabet
meiner selbst
ich teile zu wenig
mit
das ist doch ein jämmerliches
deutsch
in dem ich worte
so einfach verliere
wo ich mich gern
verplappern will
bei unseren märchenhaften
möglichkeiten
und den vielen dichtern
wie könnt ich mir besser
von der seele reden
als in großen deutschen worten
feurig
und zärtlich

„Lebensfeier“ für Kalle Wiersch

Freunde von Kalle Wiersch haben nach seinem Tod in der Dortmunder Pauluskirche am 8. November 2014 eine Gedenkfeier gehalten. Die Videoaufzeichnung dieser Veranstaltung kann man hier ansehen:

 

Zur Info:

Jürgen Wiersch (* 27. August 1958 in Bochum; † 29. Juli 2014 in Dortmund) war ein deutscher Schriftsteller, Schauspieler und Pädagoge. Wiersch machte 1979 bis 1981 die ersten Erfahrungen mit Theater und Gesang in der „Chorfantasie“ in Castrop-Rauxel und im Rahmen einer Theaterhospitanz 1980 am Westfälischen Landestheater. Von 1984 bis 1991 war er Schauspieler am Nausea Theater in Bochum und von 1991 bis 2001 Schauspieler und Dramaturg am pidi-Theater in Dortmund. 2002/2003 war er Ensemble-Mitglied des Theaters im Depot in Dortmund und von 2006 an beim Roto-Theater. Außerdem arbeitete er als Pädagoge im Kultur- und Begegnungszentrum Dietrich-Keuning-Haus.

Anfang der Achtziger Jahre war Wiersch an den Literaturzeitschriften „Die Angler“ und „Scherezâd“ beteiligt. Er war 1984 Mitbegründer des Autorensyndikats „Vergnügungsbehörde“ und 1990 der Literatur-Performance-Gruppe „ca. 12“. Wiersch gilt als einer der Pioniere der Slam-Poetry. Bei seinen literarischen Darbietungen von Live-Poesie, die öfters an ungewöhnlichen Orten stattfanden, verband er Literatur, Musik, Schauspiel und Performance miteinander. Für seine lyrischen Arbeiten erhielt er 2003 den Förderpreis des renommierten Ernst-Meister-Preises.

Wiersch ist Vater des Musikers Rocco Wiersch.

Das Grab befindet sich auf dem Dortmunder Südwestfriedhof neben dem des Dadaisten Richard Huelsenbeck.

Fotos: privat

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